Vorwort zu Josef Pieper: Über den Begriff der Sünde

Kann man heute noch mit „unbefangener Sachlichkeit“ von der Sünde reden? Gut vierzig Jahre nach dem ersten Erscheinen von Piepers Schrift „Über den Begriff der Sünde“ wird man feststellen müssen, daß selbst im Verkündigungsraum der Kirche kaum mehr von Sünde geredet wird. Von „Fehlern“ und „Fehlverhalten“ ja, auch von „Strukturen der Sünde“. Aber von Sünde in ihrer eigentlichen Bedeutung als „willentlicher Abkehr von Gott“? Es mag sein, daß in früheren Zeiten zu viel und zu unvermittelt von dieser beunruhigenden Seite menschlicher Freiheit die Rede war. Sünde wurde vor allem im Kontext von Geboten und Verboten thematisiert und ihr Gewicht noch einmal mittels der Unterscheidung von Läßlichkeit und Schwere differenziert. Sicher stand dahinter die berechtigte Sorge, die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und seine Angewiesenheit auf die göttliche Gnade im Bewußtsein der Gläubigen präsent zu halten. Auch das geschieht heute weniger oder meist so, daß der wesenhafte Zusammenhang von Sünde, Umkehr und Erlösung faktisch aus dem Blick gerät. Das mag auch daran liegen, daß das Schlimme von Sünde und Schuld allzu lange vor allem in juridischer Perspektive vermittelt wurde: als Übertretung gottgesetzter Normen und als Beleidigung der göttlichen Majestät. Es mangelte an einem plausiblen Bezug auf die Seinsweise des Menschen, der in der Abkehr von Gott sein eigenes Lebensziel verfehlt.

Schon wo das Schlimme menschlicher Schuld zur Rede steht, geht es weder allein um die Mißachtung moralischen Pflichten, noch allein um die Folgen unrechten Verhaltens für Andere. Es sind auch wir selbst, die Schaden nehmen, wenn wir schuldig werden. Dasselbe gilt in noch höherem Maße, wenn zwischenmenschliche Schuld als Sünde vor Gott verstanden wird. Es klingt fromm, ist aber eben doch, wie bei Thomas von Aquin nachzulesen ist, keine „ausreichende Antwort“ zu sagen, Gott werde durch die Sünde des Menschen beleidigt. Sondern: „Gott wird allein auf die Weise von uns beleidigt, daß wir gegen unser eigenes Gut handeln.“ Wer sündigt, gerät in einen Zwiespalt mit sich selbst, weil so „die innere Hinbewegung des Menschen auf sein eigenstes Ziel“ vereitelt wird, auch wenn dies der Selbstbeobachtung (zunächst oder auf Dauer) verborgen bleibt. Alle Sünde hat ja etwas Verführerisches, weil sie eine besondere Erlebnisqualität verheißt: Freiheit für sich selbst und Lustgewinn in der Macht über andere. Dennoch ist da eine tiefe Unstimmigkeit im Selbstverhältnis des Menschen, die ihm nicht völlig verborgen bleiben kann. Auch wo er nichts von Gott weiß oder wissen will, weiß er doch, daß er sich auf diese Weise die ersehnte Erfüllung seiner Existenz nicht zu verschaffen vermag und am Ende scheitern wird.

Möglicherweise ist das mit ein Grund dafür, daß die dahinterstehende Konzeption des Menschen, welche diesen Zwiespalt allein verständlich macht, weithin ignoriert und abgelehnt wird. Die „ganze traditionale Lebenslehre“ beruht auf einem „sehr fundamentalen Gedanken“: daß es eine menschliche Natur gibt, etwas von Geburt bereits Mitgebrachtes, das ungefragt und „über seinen Kopf hinweg“ dem eigenen Wollen und Tun vorgegeben ist. Der Mensch ist nicht Schöpfer seiner selbst und auch nicht Herr über das letzte Ziel seines Lebens. Darum ist das Gute nichts „willkürlich Ausgedachtes und Erfundenes“, noch das Böse etwas, das „getrennt gedacht werden könnte“ von dem, was jeder ohne sein Zutun schon ist. Gut und Böse setzen uns in ein Verhältnis des Gelingens und Scheiterns zum Grund unserer Existenz, der nicht wir selber sind, sondern Gott. In der Abkehr von Gott verfehlt der Mensch sich selbst gerade dann, wenn er meint, ohne Gott er selbst sein zu können.

Da mag es naheliegen, um der eigenen (vermeintlichen) Freiheit willen philosophisch die Konzeption einer „Natur des Menschen“ ganz aufzugeben und theologisch „ein durch die Gnade Christi gewirktes Befreitsein des Menschen von seiner Natur“ zu vertreten. In beiden Kontexten verliert nicht bloß die Möglichkeit der Sünde als „willentliche Verneinung des Sinngrundes der eigenen Existenz“, sondern auch die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen ihre Plausibilität.

Von Erlösung und Vergebung menschlicher Schuld durch Gott zu reden fällt nicht in die Kompetenz der Philosophie. Sie beschränkt sich auf das, was im denkenden Nachvollzug darin schon mitgedacht und vorausgesetzt ist. Das ist, wie man schnell merken wird, nicht wenig. Piepers erhellende Untersuchung zum „Begriff der Sünde“ eröffnet auf der Spur seines „Lehrmeisters“ Thomas von Aquin einen neuen Zugang, Sünde als Selbstverfehlung des Menschen zu verstehen. Es sollte darum heute wieder möglich sein, mit unbefangener Sachlichkeit von der Sünde zu reden

Berthold Wald: Vorwort zu Josef Pieper, Über den Begriff der Sünde

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